Gleich zu Beginn des 11. Kapitels stellt Paulus die Frage: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen?“ (Röm 11, 1). Und sogleich antwortet er: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat“ (Röm 11, 2). Diese Antwort steht im Einklang mit den Verheißungen Gottes in der Tora und den Prophetenbüchern, z. B.: „Und des Herrn Wort geschah zu Jeremia: „Hast du nicht gemerkt, was diese Leute reden: „Die beiden Geschlechter, die der Herr auserwählt hatte, hat er verworfen“, und sie verachten mein Volk und lassen es nicht mehr ein Volk sein in ihren Augen. So spricht der Herr: „Wenn ich jemals meinen Bund nicht hielte mit Tag und Nacht noch die Ordnungen des Himmels und der Erde, so wollte ich auch verwerfen das Geschlecht Jakobs und Davids, meines Knechts, dass ich nicht mehr aus ihrem Geschlecht Herrscher nehme über die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Denn ich will ihr Geschick wenden und mich über sie erbarmen“ (Jer 33, 23-26; vgl. 3. Mose 26, 42-45; Jer 11, 4-5; Jer 30, 17; Jer 31, 20 und 31-37; Jer 51, 5; Ps 95, 7; 5. Mo 32, 9).
Auch der Prophet Jesaja wird nicht müde zu wiederholen und immer neu zu betonen, dass Israel Gottes erwähltes Volk ist (Jes 41, 8), an dem er sich erfreut (Jes 42, 1) und das für seine Ziele geschaffen ist (Jes 44, 2). Jedoch spricht der Prophet zu einem Volk, das sich verlassen (verstoßen) fühlt (Jes 40, 27), zu einem Volk in Verzweiflung (Jes 40, 12-31). Der Prophet will Israels Furcht mit Worten des Trostes begegnen: Israel ist nicht verstoßen! „Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe, du Spross Abrahams, meines Geliebten, den ich fest ergriffen habe von den Enden der Erde her und berufen von ihren Grenzen, zu dem ich sprach: Du sollst mein Knecht sein; ich erwähle dich und verwerfe dich nicht – fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ (Jes 41, 8-10) Mehr noch, Israel hat eine Zukunft, in der Gottes Gerechtigkeit vor der ganzen Welt bestätigt werden wird. Israel hat als Gottes Volk eine Mission, es soll Gottes Errettung auf der ganzen Welt verbreiten (vgl. Jes 42, 1; 5-6).
Und so will Paulus uns zeigen, was in der Zeit nach Jesu Tod und Auferstehung auf Israel und die Nationen zukommt. Paulus weist zuerst darauf hin, dass die Behauptungen, das Volk Israel sei verstoßen, durch Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart widerlegt worden sind. Paulus war ein Jude aus dem Stamm Benjamin. Hätte Gott sein Volk verstoßen, hätte Paulus selbst gar nicht zum Glauben an Jeschua, den Messias Israels, kommen können. Aber da Paulus gläubig war, können andere Juden auch gläubig werden. Paulus betont aber, dass dies durch Gottes Gnade und nicht als Folge ethnischer Abstammung oder unserer Werke geschieht (Röm 11, 1-10).
In den Versen 11-24 des 11. Kapitels stellt Paulus eine weitere Frage: Können Juden noch gerettet werden? Manche Nachfolger Jeschuas aus den Nationen (hier: aus Rom) waren scheinbar der Meinung, dass alle Juden dauerhaft verstockt seien und nicht mehr errettet werden könnten. Aber Paulus hatte schon im ersten Kapitel seines Römerbriefs, Vers 16, betont, dass sich seine Mission an die Juden zuerst und dann auch an die Griechen richte. Paulus formuliert sein Ziel: „Euch Heiden aber sage ich: Weil ich Apostel der Heiden bin, preise ich mein Amt, ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten könnte“ (Röm 11, 13-14).
Er sieht die Heidenmission als Mittel zur Rettung Israels. „Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten!“ (Röm 11, 15). Wenn ein Heide zum Glauben kommt, wird er eingepfropft in den Ölbaum (Volk Gottes), wenn ein Jude zum Glauben kommt, ist es wie eine Auferstehung von den Toten. Paulus bekräftigt diesen geistlichen Sachverhalt im Ölbaum- Bild (Röm 11, 17-24): Es besteht immer die Möglichkeit, dass Juden zum Glauben an Jeschua den Messias kommen. Entscheidend ist: „... sofern sie nicht im Unglauben bleiben“ (Röm 11, 23). Die Rettung Israels ist, wie auch bei anderen Völkern, von ihrem Zum-Glauben-Kommen an Jeschua abhängig. Und deshalb ist das Hauptanliegen von Paulus, deutlich zu machen, dass Gott das Volk Israel nicht verstoßen hat, dass Israel für das Evangelium grundsätzlich nicht verloren ist und nicht vom Evangelium ausgeschlossen werden darf.
Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass Israel durch Jeschua vergeben, es wiederhergestellt und wiedergeboren wird (vgl. Jer 31; Hos 2; Jes 66). Einzigartig bei Paulus ist, dass er das zukünftige Heil Israels mit dem geistlichen Zustand der Gläubigen aus den Nationen verknüpft. In diesem Kontext gesehen sollten alle Gläubigen dafür beten, dass sich das Evangelium in den Nationen weiter verbreitet sowie die Herzen der Nichtjuden für das Volk Israel und Gottes Absichten mit ihm gewonnen werden. „Denn von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“ (Röm 11, 36).
Dimitri Fletman
Master of Arts in Bible